Event, Event, die Kindheit brennt
Herbstzeit ist Elternabendzeit, in den ersten Wochen des neuen Schuljahres kann man sich nur schwer dem allgegenwärtigen Schulthema entziehen. Man lernt neue Schulen / Lehrer*innen / Konzepte kennen, man erfährt von neuen Schulformen, neuen Bildungsprofilen und neuen Förderkonzepten und die Medien bersten vor lauter Brandbeiträgen zur Bildungssituation in Deutschland.
Wer früher schon im alten Blog mitgelesen hat weiß, wie sehr ich auf Kriegsfuß stehe mit frühkindlicher Förderung, und wie wenig ich davon halte, möglichst früh möglichst viel in die Kinder hineinzustopfen. Überall wird seit Jahren beobachtet, gemessen, in Listen eingetragen, es werden Kurven gezeichnet und Klein-Luise mit Klein-Dominik verglichen, und überall wächst der Leistungsdruck – aber nicht nur für die Kinder, sondern auch für Lehrer*innen und Eltern. Wo man noch argumentieren kann, die Grundrechenarten zu beherrschen berge gewisse Vorteile, Lesen und Schreiben ebenfalls, und wie schöne Erfolge man erzielen könne, wenn die Kinder schon mit 2 Jahren ihren Namen in den Sand malen, so endet mein Verständnis exakt an der Stelle, an der die Eventisierung von Kindergarten und Schule einsetzt.
Gestern schrieb ich bei twitter
Moderne Pädagogik ist, dass Kinder keine einzige Minute mehr durchatmen können in der Schule, weil ständig irgendein Sinn angesprochen wird.
— Pia Ziefle (@FrauZiefle) October 16, 2013
Das ist mein voller Ernst. Ich würde sogar noch weiter gehen und von „Ritualdiktatur“ sprechen. Moderne Grundschulkinder können keinen Schritt mehr machen ohne das zugehörige Lied, die zugehörige Geste, das zugehörige Sprüchlein. Wo früher „trenne nie st, denn es tut ihm weh“ einen gewissen inhaltlichen Bezug hatte, müssen heute Pausenlieder gesungen werden, und selbst der Toilettengang wird musikalisch eingeläutet.
Im Fachunterricht steht nicht mehr nur die Lehrkraft am Pult, sondern mit ihr noch eine Handpuppe, die lesen lernen muss, eine andere, die nicht rechnen kann / besonders gut rechnen kann / aus dem Zahlenland kommt, eine weitere, die leider nur Englisch spricht und möglicherweise noch eine für religiöse Dinge.
Warum nur?
„Um die Kinder mit allen Sinnen anzusprechen.“ – „Kindgerechte Pädagogik.“ – „Um passives Lernen zu ermöglichen.“
Klingt wundervoll, die Realität aber ist, dass Kinder, deren Sinne besonders gut angesprochen werden, den ganzen Schultag über unter Strom stehen. Entweder, weil sie so begeistert sind und nichts verpassen wollen, oder, weil sie schon von der Krippe an gelernt haben, dass in Kindergarten und Schule ein Event den nächsten jagt. Sie können mit den stillen Zeiten dazwischen, in denen alle Kinder in sechs verschiedenen Farben das A nachspuren, überhaupt nichts mehr anfangen.
Diese Kinder kommen nach Hause, und sind vom Schulvormittag auf allen Ebenen ausgelaugt.
Noch nie so erschöpfte Grundschüler erlebt wie im Augenblick. Halte genau überhaupt nichts davon. Dann lieber frontaler Fachunterricht.
— Pia Ziefle (@FrauZiefle) October 16, 2013
Lehrer*innen beklagen ja gern die Reizüberflutung durch die Medien, kein Elternabend ohne flammende Reden, den Kindern nur ja keinen Fernseher oder Computer ins Zimmer zu stellen. Im Zeitalter von Smartphones und tablets ein hoffnungsloser Appell (wiewohl ich den Kerngedanken verstehe und da mit der Headline beim nuf exakt einer Meinung bin).
Lehrer*innen beklagen merkwürdigerweise aber nicht die Über-Eventisierung moderner Kindheiten. Ich hole mal eben aus:
Kindergeburtstage.
Wo man früher Limonade und Kuchen serviert hat und die Kinderbande ansonsten sich selbst überlassen hat, steht man als Eltern heutzutage als Außenseiter da, wenn man weder Indoorspielplatz / Walderlebnisnachmittag / Prinzessinnen-Mottoparty oder Clowns vorgesehen hat. Eltern überschlagen sich schon bei 3-jährigen mit Zirkus im Garten, zu dem sie die ganze Kindergartengruppe eingeladen haben, um niemanden auszugrenzen – und überstehen den Nachmittag dann nur mit einer ordentlichen Portion Tavor (Anna Katharina Hahn beschreibt in „Kürzere Tage“ sehr eindrucksvoll die Kehrseiten einer solchen perfekten Mutter).
Spielnachmittag.
Früher hat man bei den Nachbarskindern geklingelt und gefragt, ob sie zum Spielen rauskommen. Konnte das Kind, ging man raus, konnte es nicht, klingelte man beim nächsten. Heute öffnen gestresste Eltern, die „leider keine Zeit für Besuch“ haben. Warum? Weil moderne Eltern nicht nur den Türsummer bedienen, sondern „am Spielnachmittag“ für die Kinder Limonade und Kuchen servieren, weil sie ihnen Spielangebote machen und mindestens einen Gegenstand gemeinsam basteln wollen. Das geschieht nicht organisch, weil Mutter oder Vater sowieso gerade backen, oder sowieso gerade den Adventskranz binden, sondern extra – als Event. Selbstredend darf sich das Kind auch nicht mehr selber aussuchen, mit wem es spielt, schließlich müssen in diesem Arrangement die Eltern die Besuchskinder aushalten.
Ausflüge.
Ging man früher in den Wald und war zufrieden, wenn man auf Bäume klettern konnte, werden heute schon die 1-jährigen in der Kraxe durch den Zoo geschleppt. Kein Wunder, wenn die Eltern sieben Jahre später, wenn das Kind dann eigentlich so weit wäre, keine Energie mehr haben, zum achten Mal in den Zoo zu gehen. Oder die Kinder nicht mehr zufrieden sind, wenn sie „schon wiiieeder“ so eine blöde Burg besichtigen sollen. In Wahrheit haben sie vielleicht nur ganz gesund keine Lust, hinter ihren Eventkonzept-Eltern her zu tapern.
Aber Klein-Luise hat doch so gelacht, als sie die Elefanten gesehen hat! Klein-Dominik interessiert sich aber so sehr für Fische! Na ja, ich halte dagegen, dass Klein-Luise auch auf einer Blumenwiese fröhlich gewesen wäre, und Klein-Dominik begeistert beim Tierangebot in der Zoohandlung. In Großstädten lässt sich sehr gut einfach mit der S-Bahn rumfahren, ich bestehe nicht auf der Blumenwiese.
Halloween
Waren früher die Jahreszeiten mehr oder weniger eindeutig, weil man sie draußen gesehen und gefühlt hat, weil die Lebkuchen nur an Weihnachten im Laden standen und Erdbeeren nur im Sommer, erkennen moderne Kinder die Jahreszeit am jahreszeitlich geschmückten Haus, mindestens am Türkranz. Damit das Warten zwischen Sommer und Adventszeit nicht so lang wird, schieben moderne Familien inzwischen Halloween dazwischen. Das ist dieser Abend, an dem man genötigt wird, zur Schlafenszeit der eigenen Kinder Süßwaren an die Kinder der anderen auszuhändigen. Selbstverständlich in rauen Mengen. Kostet ja nichts. Egal, ob man dahinter steht oder nicht. Hauptsache Event.
Warum nur sperre ich mich so sehr gegen all diese Dinge, die bestimmt für viele Familien sehr schön sind?
Weil ich seit Jahren das Gefühl habe, alles was mit Kindern zu tun hat, ist durchkonzipiert, und die handelnden Akteuere verschwinden immer mehr hinter ihren Rollen mit dem Ergebnis, dass alle an allen Stellen völlig überfordert sind. Mütter backen sich nachmittags die Finger wund, Lehrer*innen haben Handpuppenalpträume, Väter lesen im Väterhandbuch nach, welche Aktivität sie mit ihren Kindern ausüben müssen für eine stabile Vater-Sohn-Bindung, und die Kinder müssen 24 Stunden am Tag begeistert sein, sonst fragen sich all diese Erwachsenen sofort, was sie falsch gemacht haben und wo es Optimierungsbedarf gibt.
Alle sind auf einem dermaßen hohen Anspannungslevel unterwegs, das ist nicht zum Aushalten. Dabei meinen es alle gut, alle wollen das Richtige tun. Aber alle übersehen die Verschiebung von Maßnahmen und Aktivitäten aus dem einen Bereich in den anderen. Gehen wir zurück zum Spielnachmittag / Kindergeburtstag. Der Kuchen vom Geburtstag ist in den normalen Nachmittag gewandert, der einmalige Weihnachtsschmuck mit seiner einmalig festlichen Stimmung hat seine Wiedergänger an Ostern (inklusive Osterkalender mit Schokolade!), im Sommer, an Halloween etc…
Die Handpuppen, die früher einmal im Jahr im Kindertheater auflebten, und dort für starke Erlebnisse und Eindrücke gesorgt haben, poppen nun beim ersten Klingeln am Morgen spaßbereit aus ihren Kartons auf dem Pult.
Und all die Methoden, die für Kinder in defizitären therapeutischen Kontexten ausgedacht worden sind, finden nun Einzug in den ganz normalen Schultag.
Das ist, als würden wir alle morgens eine Apsirin nehmen, falls wir Kopfschmerzen bekommen, oder am besten gleich das Beruhigungsmittel, falls wir uns aufregen könnten, oder noch besser, wir haben immer den Notarzt in der Wohnung, damit uns nichts, aber auch wirklich gar nichts passieren kann.
Absurd, oder?
Dann lassen wir das doch einfach alles sein. Vertrauen wir doch auf die Kinder, vertrauen wir darin, dass nicht wir Eltern den Kindern alles alles alles gezeigt haben müssen, und geben wir den Kindern für die Schule klare Ziele mit:
@citykirche_sw die Kinder sollen nach 4 Jahren lesen, schreiben und rechnen können. Und an ihr Sportzeugs denken. Fertig. (meine Meinung).
— Pia Ziefle (@FrauZiefle) October 16, 2013
[edit1] Zur Ergänzung packe ich den Screenshot der twitter-Unterhaltung mit hinein:
[edit2] zum einen: tausend Dank für all Eure Kommentare! Es freut mich ungemein, dass Ihr Euch so viel Mühe gemacht habt.
Inzwischen hat Juna einen Beitrag über spezielle Begabungsförderung und eventuell fragwürdige Kriterien geschrieben, und Rainer einen Beitrag über den Kopierwahn in der Schule. Es kommt auch eine Bemerkung zu Lückentexten vor, die ich teile. Aber sowas von.
Herr Larbig wiederum ist selbst Lehrer, und schrieb sehr sehr lesenswert über den Unterschied zwischen „Wiederholen“ und „Üben“.
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