Bov Bjerg – Serpentinen
Auf der Buchmesse in Frankfurt bereits gesichtet, bin ich herumgeschlichen in enger werdenden Kreisen um die „Serpentinen“ von Bov Bjerg, die dieser Tage erscheinen als Spitzentitel im 2020 wieder auferstandenen Claassen Verlag.
Während der Vorgängerroman „Auerhaus“ verfilmt bald im Kino zu sehen sein wird, erscheint mir schon der Trailer als zu einem Stoff gehörend, den ich so nicht erinnere. War das Auerhaus komisch? Lustig? Mir geblieben ist am eindrücklichsten die Szene, in der der Held das Kinderzimmer vom Frieder findet, eine fensterlose winzige Kammer.
Exakt eine solche Kammer ist der innere Raum, den derselbe Ich-Erzähler in den Serpentinen bewohnt. Oder sich zugesteht. Er ist unterwegs im Mietwagen am Fuß der Alb, fährt mit seinem knapp achtjährigen Sohn die Serpentinen hinauf, also die Steigen, (d`Stoig nauf, oder nuff, oder rauff ond ra, oder nuff ond nonder, raa ond ronder – der Schwabe unterscheidet an so einer Stelle exakt vom Standort des Sprechenden aus: „raa“ oder „rabb“ oder „ronder“ ist es dann, wenn einer unten steht und ein andere herabsteigen soll – „naa“ oder „nabb“ oder „nonder“ ist es, wenn man selbst oben steht und heruntersteigen möchte).
Er bewegt sich also in der Landschaft seiner Kindheit – meiner Kindheit ebenso, und diese Landschaft, der Karst wird mit zum Erzählton, in dieser Landschaft verschwinden Dinge, Wasser beispielsweise. Es kann regnen so viel es will: das Wasser bleibt nicht. Der Boden kann es nicht halten. Es verschwindet in Spalten und Höhlen, fließt in die Donau oder auf die andere Seite, die Wasserscheide ist ein Topos, der immer wieder auftaucht im Buch: wohin fließt etwas, und woher kommt es und fließt es überhaupt – und warum findet eine Familie keine Worte für Einschläge und Traumata, die ja auch wenn sie verschwiegen sind, ihr Gewicht haben, vielleicht sogar ein noch viel größeres?
Der Erzähler war ein Kind, etwas jünger als sein eigenes, als der Vater sich das Leben genommen hat, wie schon der Großvater und der Urgroßvater vor ihm.
Wie kann man mit diesem Gewicht im Gepäck selbst erwachsen werden? Wie kann man so alt werden wie der Vater, und dann sogar noch älter?
Während die Serpentinen im Außen diejenigen sind, die sich die Alb hochfräsen, in die ein gewisser Technologiewahnsinn „die Große Abkürzung“ hineinbohrt, bewegt sich der Erzähler – ohne jede Abkürzung – in Serpentinen hinein und hinab in seine fensterlose innere Kammer und nähert sich der Urverletzung: dass er offensichtlich nicht genug gewesen ist, um den Vater zum Bleiben zu bewegen.
Die Serpentinen fordern einen. Sehr. Weil das Unsagbare, das Allerschlimmste im Raum steht: dass der letzte Vater einer langen Reihe, der erste, dem all das Unausgesprochene bewusst geworden ist, der all das Unausgesprochene zutage gefördert und zusammengetragen hat, zu schwer daran zu tragen hat, als dass er weitermachen möchte. Und darüberhinaus, in schmerzhaft zwingender Logik dem eigenen Sohn nicht zumuten möchte, mit einem solchen Trauma aufzuwachsen, so dass der Tod des Kindes für wenige Zeilen im Text eine Lösung zu sein scheint.
Ich habe das Buch an dieser ersten solchen Stelle weggelegt und eine Pause gemacht, weil ich mich nicht zur Komplizin machen wollte, indem ich zuschaue und lesen und wissen will. Das schwarz/weiß im Cover erschien mir beängstigend richtungsweisend.
Aber dann dachte ich: es ist Literatur und wo wenn nicht hier darf ich solche Fragen stellen? Im Krimi geschieht es einfach, die Psychologie einer Tat spielt im Genre oft keine so große Rolle – in den Serpentinen aber folgen wir einem Mann, der ganz mit sich allein bleibt, dem keine erlösende Nebenfigur begegnet, keine verflossene Liebe, kein Mentor, keine Erleuchtung nach dem siebten Bier, auch wenn er genau deswegen das dritte schon am Mittag geleert hat. Einem, der sich ranwagt an die Orte seiner Kindheit, mit seinem eigenen Kind zusammen, der Spuren nachzeichnen will und sucht, der immer wieder neu aufsteht und Wanderungen macht und sich einlässt auf die Wünsche des Sohnes, den er erkennbar liebt, auch wenn er sich selbst immer wieder zu wundern scheint, warum er das kann und woher das kommt.
Bewundernswert M., die seine Frau ist, mit ihrer eigenen Geschichte, die das Kind mit ihm zusammen bekommen hat und ihn liebt, wiewohl sie ihn kennt und sieht und erkennt – sie darf einen Satz sagen, der die Schwere der Erzählgegenwart ein wenig auflöst, sie darf vom „egozentrischen Weltbild“ sprechen und vom Abschied davon, und macht damit einen Bogen auf in die Zukunft, weit nach der Erzählung.
„Ich gelte als schwieriger Verlag, sicher nicht, weil ich schwierige Bücher verlege, sondern vermutlich nur, weil das neue Unbekannte, das Experiment, mir wichtig ist, weil ich dem Leser häufig neue Namen und Themen zumute. Ich hoffe, daß eines Tages die Einheit in der Fülle verstanden wird“, schrieb einst Eugen Claassen, und ich kann sagen: mit den Serpentinen als Spitzentitel legen die Ullstein-Verlage einen Roman vor, der einem eine ganze Menge abverlangt, der aber, genau gelesen die Fragen stellt, die jede Geschichte stellt, die uns weiterbringt: wie werde ich zu dem, was ich bin? Wer bin ich? Und muss ich der bleiben, der ich im Augenblick bin? Wie folgerichtig sind die Ereignisse der Vergangenheit und lassen sie mir wirklich keinen Raum?
Und wie kann ich eine Aufgabe erfüllen, die ich erfüllen will, weil ich liebe, für die ich keinerlei Vorbild habe und meine Gegenwart mir kein eindeutiges Bild mehr liefert – wie kann ich unter all diesen Umständen ein guter Vater sein?
Bov Bjerg, Serpentinen, 272 Seiten, 22 Euro, Erscheinungstermin 28.01.2020
erhältlich online und offline bei uns im Laden und in jeder anderen Buchhandlung
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