Reden wir über Grenzen

Erschreckend wenig Erschrecken, erschreckend wenig Reaktionen zu PRISM außerhalb der Netz- und Journalistenkreise. Im Tagesspiegel heute eine Idee, woran es liegen kann: man fühlt sich nicht betroffen, man fühlt sich sicher, man fühlt sich, so ergänze ich, „auf der richtigen Seite.“

„Meine SMS, sollen sie die halt lesen“, oder „meine Mails, ach du meine Güte, viel Spaß, NSA“. So weit, so vielleicht auch erwartbar.

Was mich viel mehr beschäftigt ist etwas anderes: auf meine Überlegungen zur täglich privat praktizierten Überwachung kamen teils völlig verständnislose Reaktionen (auch via Mail oder DM), in einem Kommentar fiel der Begriff „friendly stalking“, und seither lässt mich das nicht mehr los. Ich habe angefangen, über unsere Beziehungen nachzudenken.

Ist es wirklich üblich inzwischen, Handys gegenseitig zu lesen, facebook-Updates zu checken, sich andauernd per irgendwelcher Apps gegenseitig zu erzählen was man tut, wo man ist, was man demnächst tun wird? Wissen Paare voneinander ständig alles? Liegt man, kaum hat man sich ein wenig angenähert, an der kurzen Smartphoneleine?

Allein mir das vorzustellen, ich kann keinen Schritt gehen ohne damit rechnen zu müssen, dass der Partner mich anruft und um A, B oder C bittet, raubt mir den Sauerstoff. Dass ich nicht mehr morgens vom Frühstückstisch aufstehen kann und mir sicher sein, die eben getroffenen Vereinbarungen werden nicht noch drei-, viermal umgeworfen, weil eine Bahn weggefahren ist, ein Laden zu hat oder die Lieblingsnudeln im Supermarkt woanders stehen. Wo es möglich ist und nichts kostet, wird ja, ich beobachte das bei anderen, wegen größter Nichtigkeiten telefoniert oder getippt.

Dann wage ich einmal eine steile These: wo so wenig persönlicher Freiraum ist, ist keine Beziehung, sondern Symbiose. Regression. Bei den oben erwähnten Beispielen handelt es sich um lauter Dinge in dieser Draußen-Welt, die ich von meinem Standort aus sowieso nicht ändern kann, ich kann sie nicht beeinflussen – warum muss ich sie kommentieren? Was soll der Anruf vom Nudelregal aus bewirken? Ist der andere nicht selbst in der Lage, nach den Nudeln woanders zu suchen? Fachpersonal zu befragen?

Was also wollen wir mit unseren symbiotischen Handlungen? Rückversicherung? Ist das Beziehungspflege? Schatz, ich liebe dich, weil ich dich so sehr brauche, das siehst du ja, ich finde sogar die Nudeln nicht? Überspitzt gesagt?

Ganz ehrlich? Wenn das so ist, dann frage ich mich einerseits nicht mehr nach den Gründen für die Burn-Out-Rate im Job, wesentlich fataler ist das Fehlen von Grenzen allerdings in Liebesbeziehungen: da wundert es mich dann ü-ber-haupt-nicht, dass immer weniger Menschen sich binden wollen (unter DIESEN Umständen kann das keiner wollen, wenn Selbstauflösung die Bedingung für Beziehung wird), es wundert mich weiter nicht, dass Menschen sich immer seltener Kinder vorstellen können (NOCH mehr Symbiose… allerdings an der richtigen Stelle und mit dem entscheidenden Punkt: das hört ja gesunderweise irgendwann wieder auf).

Und noch weniger wundert mich, dass sich so wenige wehren gegen die Totalüberwachung. Wenn ich schon im Privaten keine Grenzen mehr hochziehe, und ich halte Grenzen für essentiell, um als Individuum gesund und integer bleiben zu können, dann nimmt man diese unglaubliche Grenzüberschreitung eines Geheimdienstes wahrscheinlich viel ungerührter hin. Und die ausbleibende Reaktion des Staates ebenfalls.

Widersprecht mir, erklärt es mir.