Wie wir leben wollen
In vier Wochen sind Bundestagswahlen und eigentlich ist das der Augenblick in unserer Demokratie um aufzustehen, in ein Wahllokal zu gehen und ein Kreuz zu machen. Einfacher geht Mitgestaltung nicht, die Arbeit in den Gremien machen dann ja die anderen. Wir können sogar zuhause unser Kreuzchen machen, per Briefwahl (die ich jedem ans Herz lege, weil man da nebenher nochmal die Positionen der Kandidaten auf dem Zettel im Internet nachschauen kann, und auch, wie das mit Erst- und Zweitstimme war).
Eigentlich müsste jetzt Wahlkampf sein, aber ich glaube, alle Parteien haben vergessen, dass Wahlkampf mehr ist als Plakate kleben und an Infoständen herumstehen. Oder Flyer in Briefkästen zu werfen. Oder eine website zu haben.
Das, was ich dieses Jahr erlebe, ist furchtbar. Wir haben eine drohende Eskalation in Syrien, bei der man als normaler Mediennutzer nicht mehr unterschieden kann, wer da was inszeniert und wer aus welchen Gründen buchstäblich über welche Leichen geht, wir haben reflexhafte Reaktionen in den USA, in Russland, in Europa. Reaktionen, die mir die allergrößte Angst machen, weil sie wie aus einem Drehbuch aussehen. Dazu kommt, Syrien ist neben der Türkei, deren politische Lage ich ebenfalls mit heftigen Bauchschmerzen beobachte – und in Zentraleuropa ist die größte Sorge: keine.
Nichts. Totale Ruhe in Berlin.
Ein bisschen Enwergiewende, ein bisschen Winkewinke am Nordseestrand. Ein bisschen mit Obama telefonieren und dann noch ein bisschen lästige Fragen wegen der NSA unter Pofallas Teppich kehren. Wahrscheinlich ist es der, den Niebel aus Afghanistan mitgebracht hat.
Wahlkampf ist irgendwie nur bei der AfD. Das macht mir erst recht schlaflose Nächte. Weil man auch da nicht weiß, auf welchem geistigen Boden diese Ideen wachsen.
Und zum allergrößten Thema, der Überwachung: stillste Stille.
(edit: Sascha hat einen Erklärungsversuch unternommen]
Ich habe vor ein paar Tagen allen meinen Wahlkreiskandidat*innen dieselbe Mail geschickt, mit meinen Fragen zu ihrer Haltung zur Überwachung. Das war vor der Meldung über die Totalüberwachung auch der politischen Organe. Geantwortet haben die beiden SPD-Politiker, und der Kandidat der FDP. Alle drei sehr lang, sehr ausführlich, sehr nachvollziehbar. Geschwiegen haben alle anderen.
Vielleicht sollte ich ihnen den Text von Frank Schirrmacher schicken und sie daran erinnern, dass sie nicht als Verwalter antreten, sondern als Gestalter. Ich habe das Gefühl, alle, auch wir, sind schreckensstarr im Anblick der Systeme, die wir geschaffen haben. Zwar fallen dauernd an der Börse irgendwelche Computer aus und vernichten Geld, aber so sind sie halt, die Computer. Wir haben Finanzsysteme, Steuersysteme, Kennzahlensysteme – und wir unterwerfen uns in unserem politischen und wirtschaftlichen Handeln den Zahlen, die die ausspucken? Ja?
Wir haben Firmen, ganze Branchen, die aufgrund von Marktkennzahlen meinen, nicht mehr wirtschaftlich in Deutschland produzieren zu können. Auf welcher Basis sind diese Zahlen denn entstanden? Und was geschieht, wenn man einen Faktor nach zwanzig, dreißig Jahren Marktwachstum, das noch niemals vorher in der Weltgeschichte da gewesen ist, anders bewertet? Dann kann man plötzlich ganz viel bewegen und sogar wieder in Deutschland Textilien herstellen, wie Sina Trinkwalder in Augsburg.
Wie wollen wir zusammenleben – das ist die einzige Frage, die entscheidende Frage, die sich jede*r von uns stellen muss. Die wir unseren Kandidaten stellen müssen, unseren Abgeordneten, die wir schon gewählt haben. Oder die im Amt sind, weil wir eben NICHT gewählt haben.
Bitte schaut Euch hier Eure Kandidat*innen an, das geht ganz einfach, nur die Postleitzahl eingeben und 24 Thesen lesen. Mehr nicht.
- manniac hat den Überwachungsstaat gezeichnet
- Hinterm Stall die Blumen – Britta Freith